100 jahre bauhaus Der Internationale Stil in Tel Aviv

Im Bauhaus-Jubiläumsjahr richtet sich der Blick auch ins Ausland auf die Zeugnisse des Neuen Bauens. So bauten jüdische europäische Architekten in Tel Aviv in den 1930er- und 1940er-Jahren die Weiße Stadt, die heute zum Weltkulturerbe gehört. Sie ist einen Besuch wert, auch wenn hinsichtlich der Erhaltung nicht alles zum Besten steht.

King-George-Street/Ecke Poli House Boutique Hotel (Foto: Schillig)

Die erste Adresse finden wir in der King George Street, ein Haus aus den 1930er-Jahren, das sinnbildlich für das strandferne Zentrum von Tel Aviv stehen könnte. Von außen bröckelt der Putz, rostet das Balkongitter und sind die Glasscheiben mehr als trüb. Durch die Abgase der direkt neben den Fenstern herfahrenden Busse schimmern sie ölig. Innen öffnet sich ein anderes Universum, gut gekühlt, rohe Steinwände und High Tech nebeneinander, geschmackvoll und individuell designt.

Es ist kurz vor Beginn des Bauhausjahres, Winter 2018, 23 Grad in der Sonne. Wir sind nach Israel gereist, um Land, Leute und Religionen kennenzulernen und eine Schulfreundin in Petach Tikwa zu besuchen, die vor vielen Jahren aus Deutschland ausgewandert ist. Petach Tikwa ist eine Bettenburg mit Tausenden von smart homes im Osten von Tel Aviv. An den Tagen, an denen unsere Freunde lange arbeiten, durchkämmen wir Tel Aviv und Jaffa, neugierig vor allem auf die Weiße Stadt, Weltkulturerbe seit 2003. Sie soll zehn Hektar umfassen, etwa 3.700 Einzelgebäude zählen, davon rund 1.000 unter Denkmalschutz und 180 unter sogenanntem erhöhtem Schutz. Damit ist sie ein Superlativ: das größte Ensemble von Häusern im Internationalen Stil nach dem Vorbild der deutschen Bauhaus-Schule weltweit.

Bauhaus – das ist hier Eclectic und International Style

restaurierungsbedürftig… (Foto: Schillig)

Wir sind gespannt darauf, was uns erwartet. Denn wir kennen hauptsächlich die Internet-Bilder der Hochhausstadt und ihrer Beach Partys bei Nacht. Bauhaus-Architektur spielt da eine untergeordnete Rolle. Auf den Rat unserer Freunde hin gehen wir zu Fuß in Richtung Info-Büro und Dizengoff Platz. Unser Apartment in der King George Street ist ein guter Ausgangspunkt und ein Navi unnötig: Die großen Hauptverkehrsachsen verlaufen parallel zum Meer von Norden nach Süden, die kleineren Straßen und Alleen führen von Westen nach Osten. Die Orientierung – dank der Stadtplanung von Sir Patric Geddes Ende der 1920er-Jahre – fällt sogar mir nicht schwer. Kaum auf der Straße, stehen wir laut Google Maps vor der ersten Bauhaus-Sehenswürdigkeit am Magen David Platz, vor dem Poli House Boutique Hotel, das strahlend weiß mit seinem „Schiffsbug“ in die Straße hineinragt. 1934 als Bürogebäude „Polishuk House“ erbaut, befand sich hier unter anderem die heimliche Etzel-Druckerei während des britischen Mandats und später das Kinderschuhgeschäft „Naaley Pil“. Nachdem es viele Jahre unbeachtet war, restaurierten die in Tel Aviv ansässigen Nitza Szmuk Architects das Haus. Es sieht aus, als hätte Erich Mendelsohn hier gewirkt, halbrunde fließende Formen, die der Straßenführung folgen, horizontale Fensterbänder, so wie die Kaufhäuser der Familie Schocken in Deutschland – in seiner Dynamik fast futuristisch. Ohne Google hätte ich es nicht den 1930er-Jahren zugeordnet.

… und zum Teil vernachlässigt (Foto: Schillig)

Als wir im Bauhaus Center in der Dizengoff Straße 77 ankommen, wundern wir uns weiter. Auf der Karte, die das Info-Büro für die Weiße Stadt verteilt, ist das Welterbe farbig eingezeichnet, rot steht für den Eclectic Style und blau für den International Style; beides fasst man hier unter Bauhaus zusammen. Laut Straßenkarte stehen wir mitten im Welterbe. Schwer zu glauben, von Weiß keine Spur und auch die Gebäudekörper und ihre Linienführung erinnern nur entfernt an das, was man aus der Stuttgarter Weißenhofsiedlung kennt. Mit viel Phantasie lassen sich aus den schuhkarton-braunen, meist dreigeschossigen freistehenden Häuser, die auf eine Ansichtsseite hin konzipiert wurden, mit den über Putz gelegten Kabeln und Klimageräte-Kuben Formelemente eines Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Hannes Meyer herausschälen. Das Kriterium „form follows function“ ist insofern verwirklicht, als dass sich auch Kabel und Klimaanlagen offen zeigen dürfen und nicht eingebaut werden oder hinter Putz verschwinden.

Eher klassizistisch als Neues Bauen (Foto: Schillig)

Der Internationale Stil ist der wissenschaftliche Begriff für die Architektur der Weißen Stadt, er bezieht sich nicht auf die von Gropius begründete Schule „Bauhaus“, sondern repräsentiert den damals zeitgemäßen Gestaltungsansatz und wird weiter gefasst. Er steht für funktionelles, schnörkelloses Design, das die moderne europäische Architektur ab den 1920er-Jahren zunehmend prägte und sich von dort weltweit verbreitete. Eclectic Style meint Neoklassizistisches, wie wir nach und nach sehen, hellblau, rosa oder hellgelb gestrichene Fassaden mit Pilastern, Säulen und Kapitellen verziert, ebenfalls großzügig unter Bauhaus subsummiert.

Perspektive wechseln in Tel Aviv

Geprägt durch Musterrestaurierungen der Bauhaus-Architektur in Dessau und durch cleane Prachtband-Aufnahmen in Schwarz-Weiß heißt es in Tel Aviv die Perspektive wechseln. Hier begegnen einem nicht die auf perfektem Rasen schwebenden, leichtfüßigen Villen eines Mies van der Rohe oder geschwungene Bauskulpturen von Le Corbusier. Was in Tel Aviv fasziniert, ist die große Menge der Wohnhäuser im Internationalen Stil. Sie alle sind bewohnt, wurden umgebaut oder erweitert. Kein Bauhaus-Pathos, keine Musealisierung.

Eines der restaurierten Wohnhäuser der Weißen Stadt (Foto: Schillig)

Tel Aviv, so erfahren wir im Info-Center, wurde von einer Gruppe junger Architekten gestaltet, die Bauphase dauerte nur etwa sechs Jahre, von 1931 bis 1937. Sie hatten Palästina für ihre Ausbildung verlassen und in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien und Russland in den Ateliers berühmter Avantgarde-Architekten gelernt. Arieh Sharon, Shmuel Mestechkin, Shlomo Bernstein, Munio Gitai Weinraub und Chanan Frenkel gingen im Bauhaus in die Lehre, andere bei Bruno Taut in Moskau, bei Erich Mendelsohn in Berlin oder bei Le Corbusier in Paris. Wie in anderen Ländern war das Ziel, durch eine moderne Architektur das Leben der Menschen zu reformieren. Die einheitliche und einfache Formensprache sollte unter anderem die kulturellen Unterschiede der nach Palästina eingewanderten Juden überbrücken.

Wichtigster Architekt der frühen Moderne wurde Arieh Sharon, ein Schüler von Hannes Meyer, der am Bauhaus mit dem Diplom Nr. 6 abschloss. Er baute mit an der Weißen Stadt in Tel Aviv und wurde 1949 vom Premierminister David Ben Gurion beauftragt einen Masterplan für den neugegründeten Staat auszuarbeiten. Damit nahm Sharon die gesamte Raumplanung Israels vor. Er bestimmte die Standorte neuer Städte, Industrie- und Agrarflächen, die allgemeine Infrastruktur, Nationalparks und Naturschutzgebiete.

Einsehen in die israelische Variante des Bauhauses

Auch wenn uns nichts wirklich Spektakuläres auf unserem Spaziergang durch die Weiße Stadt begegnet, ist es doch eine spannende Entdeckungstour. Man muss sich erst einmal „einsehen“ in die israelische Variante des Bauhauses. Der Stadtplaner hatte freistehende Häuser auf kleinen Grundstücken vorgesehen, als Grundprinzip galt es Licht und Luft in die Häuser zu lassen und die Belüftung der Straßen durch den vom Meer wehenden Wind zu ermöglichen. Daher stehen viele Häuser auf schmalen Pfeilern, Pilotis, und der Wind zirkuliert auch unter ihnen hindurch. Außerdem wurden zahllose Balkone als Kommunikationsplattformen gebaut. Kopien von Bauhaus-Ikonen finden wir nicht. Das liegt wohl daran, dass viele Architekten mitbauten, die in ihren Heimatländern bereits erfolgreiche Architekten waren und nun ihre Bauweise aufgrund der Wünsche des Stadtplaners Yaakov Shifman ändern mussten. Emigrierte Architekten entwickelten sich weiter, probierten in der neuen Umgebung mit anderem Klima, anderer Mentalität und auf einem weitgehend unbebauten Gebiet Neues aus. So entstand ein weltweit einmaliges Ensemble. Die Stadtentwicklung ist natürlich nicht allein eine Frage der Formfindung. Man wollte so modern wie möglich erscheinen, und es sollte ein Neubeginn für die Ansässigen und die Einwanderer signalisiert werden.

Vorzeigeobjekt: der Dizengoff-Platz (Foto: Schillig)

Aber ganz ohne Pracht geht es auch in der Weißen Stadt nicht. Am Dizengoff-Platz sind wir im Herzen des Welterbes angelangt: kreisrund, begrünt, parkähnlich mit einem Brunnen und von strahlendweißen Häusern – Kinos, Hotels, Cafés – umgeben, typisch die banderolenartig geschwungenen Fassaden mit umlaufenden Fensterbändern und Balkonen. Für das Bauhausjahr wurde der Platz in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt. In den 1970er-Jahren hatte man ihn wegen des starken Straßenverkehrs untertunnelt. Diese brutalistische Betonbrücke missfiel der UNESCO schon 2003 und sie forderte die Stadt auf den Platz wieder zurückzubauen. Anlässlich des Eurovision Song Contests vor ein paar Wochen wurden Bilder mit Bands und Interpreten vor dem frisch restaurierten Dizengoff-Platz als Kulisse in alle europäischen Länder gesendet.

Viele Bauhaus-Gebäude müssen dringend renoviert werden

Historische Baukunst zwischen Hochhäusern eingepfercht (Foto: Schillig)

Doch dies ist eine Ausnahme: Etwa drei Viertel der Bauhaus-Gebäude in Tel Aviv müssen dringend restauriert werden. Die feuchte, salzhaltige Luft weht von West nach Ost in die Stadt, die Kalksandsteinfassaden der Stahlbetonhäuser blättern vor sich hin. In Tel Aviv fehlt Wohnraum. Rund um das Welterbe türmen sich nicht nur an den Stränden die Apartmenthäuser, sie erdrücken und ersticken es nahezu und lassen das historische Zentrum der Stadt alt und winzig erscheinen. Um die Instandhaltung ihrer denkmalgeschützten Häuser finanzieren zu können, dürfen die Eigentümer ein bis drei Geschosse aufstocken und diese Ergänzungen dann vermieten oder verkaufen. Außerdem verpflichten sie sich, die bestehende Bausubstanz erdebensicherer zu machen und einen Schutzraum einzurichten. Dieses Konzept der Bestandserhaltung ist sehr ungewöhnlich: Auf Straßenniveau bleibt die historische Substanz zwar erhalten, darüber entsteht aber eine zweite Stadt mit völlig neuen Wohngeschossen. Anders kann sich die Stadt offensichtlich nicht gegen den Druck der Investoren wehren.

Projekt Weiße Stadt mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung

Das alles lesen wir, als wir uns mit dem Max-Liebling-Haus beschäftigen und uns auf den Weg zur letzten Station des Tages machen: 2015 rief die Stadt Tel Aviv-Jaffa gemeinsam mit der deutschen Bundesregierung das White City Center ins Leben, um das historische Erbe zu pflegen. Dafür wird in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit momentan das 1936 gebaute Max-Liebling Haus in der Idelson Straße 29 restauriert. Es soll im September 2019 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Bauhausgründung eröffnet werden und als Treffpunkt und Dokumentationszentrum dienen. Bei der Bauuntersuchung fiel auf, dass deutsche Produkte verbaut wurden. Eine Kachel, die sich von der Wand ablöste, hatte die Aufschrift „Villeroy und Boch – Made in Germany.“

Unauffällig zwischen Skyscrapern (Foto: Schillig)

Fliesen, Glasfenster, Klinken, Armaturen sowie Metall und Beton fanden ihren Weg auf die Baustellen in Tel Aviv aufgrund des sogenannten Ha´avara-Abkommens. Diejenigen Juden, die flohen, durften zwar ihr Barvermögen nicht mitnehmen, konnten aber einen Teil ihres Vermögens nach Palästina transferieren und dort Maschinen, Baumaterialien und andere Produkte einkaufen, die die Nazis an das Treuhandunternehmen Ha´avara geliefert hatten.

„Israel und Deutschland besitzen eine gemeinsame historische und baukulturelle Vergangenheit“, heißt es aus dem Bundesbauministerium, das voraussichtlich bis 2025 das Projekt Weiße Stadt mitfinanziert. Bei der Restaurierung wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt und das Architekturensemble in Verbindung mit allen Ebenen und sozioökonomischen Aspekten der wachsenden Metropole gesehen. Die Maßstäbe sind andere als in Westeuropa. Schon in friedlichen Zeiten kann Denkmalschutz kompliziert und seine Dringlichkeit unterschätzt werden. Hier erscheint er vielen wie ein Luxus. Dass das Zentrum der Stadt ein Museum werden könnte, wollen und können sich die Menschen nicht vorstellen.

Text und Fotos: Christiane Schillig
Im Juni 2019

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