Fahndung nach der Herkunft einer Silbe Urklang aus Fernost – „OM“ an Lausitzer Baubefunden

Andreas Ströbl ist einem seltsamen Phänomen auf der Spur. Im Zuge seiner denkmalpflegerischen Tätigkeit und als Bauforscher entdeckte er an mehreren Gebäuden aus dem späten 17. Jahrhundert in Brandenburg und Sachsen die Schöpfungssilbe OM in der indischen Devanagari-Schrift. Mit dem folgenden Beitrag möchte Andreas Ströbl Restauratoren und im Denkmalschutz arbeitende Kollegen dazu aufrufen sich zu melden, falls sie etwas Ähnliches beobachtet haben.

Für alle Augen sichtbar und dennoch jahrhundertelang übersehen sind drei Wiedergaben der für Hindus und Buddhisten heiligen Silbe „OM“ an prominenten Baubefunden in der Lausitz. Während der archäologischen Untersuchung der Luckauer Georgenkapelle in den späten 1990er Jahren besuchte die Indologin Dr. Ulrike Teuscher die Grabung. Auf die bis dahin ungeklärte Stuckarbeit am Nordportal aufmerksam gemacht, erkannte sie sogleich, worum es sich dabei handelt.

Das Portal ist, ähnlich dem Ostportal, geprägt durch eine Ädikularahmung mit toskanischen Säulen und einem gesprengten Dreiecksgiebel mit Zahnschnitt und Obstgehänge sowie Draperiefestons. Pinienzapfenaufsätze in der Säulenflucht und inmitten des gesprengten Giebels schließen die repräsentative Zier des sonst bescheiden gehaltenen Eingangs nach oben ab. Die Draperiefestons werden von der Jahreszahl 1697 flankiert.

Abb.1: Nordportal der Luckauer Georgenkapelle (Foto: © Markus Agthe)

Besonders bemerkenswert ist der Fries unterhalb des Dreiecksgiebels über dem Nordportal. Hier sind zwei mit den Köpfen einander zugewandte Delphine abgebildet, zwischen denen in nordindischer Devanagari-Schrift die Silbe OM sichtbar ist (Abb. 1). Die Sanskrit-Verschriftung ist geradezu lehrbuchhaft wiedergegeben. Allerdings handelt es sich um eine relativ seltene und antiquierte Schreibweise, die auch in Indien seit Jahrhunderten nicht mehr gebräuchlich ist.

Abb. 1: Detail des Nordportals der Luckauer Georgenkapelle (Foto: © Markus Agthe)

OM ist ein „Urlaut“, eine Schöpfungssilbe, die das Öffnen und Schließen des Mundes und somit Anfang und Ende symbolisiert [Anmerkung 1]. Deshalb ist ihre Zitation auch bezeichnend für eine Schwellensituation und als heilbringender Gruß häufig an den Türen indischer Tempel zu finden. OM wird auch als Mantra, Anrufungssilbe und allgemeines wirkkräftiges religiöses Glückssymbol benutzt, da es für die Weltseele steht; es ist ferner eine Kurzform für die trimurti, die „Dreieinigkeit“ von Brahma Shiva und Vishnu.

Dem Symbolgehalt der Silbe entspricht auch die übliche Wiedergabe als „a-u-m“, wie sie seit den späten 60er Jahren auch bei uns nicht nur Interessierten und Liebhabern der indischen Kultur und vor allem des Hinduismus und Buddhismus bekannt ist (Abb. 2, links) [Anmerkung 2]. Der untere Teil der Silbe bezeichnet den Vokal „a“, das Vokalzeichen links determiniert den Laut als langes „o“ und der Punkt bezeichnet den Verschlusslaut „m“.

Abb. 2: OM in heutiger Schreibweise. Links symbolhaft isoliert, rechts innerhalb des Textflusses

Der charakteristische dynamische Schwung dieses OM unterscheidet sich auf den ersten Blick ebenso stark von der klassischen Schreibweise wie eine gotische Minuskel von einem Buchstaben in moderner Schreibschrift; es sind aber die gleichen Zeichen. Dieses OM hat sich – ausgelöst aus dem Textfluss – symbolhaft verselbständigt. Innerhalb eines Textes, vor allem mit dem charakteristischen Überstrich (Abb. 2, rechts), wird die Ähnlichkeit mit dem Luckauer OM augenscheinlich: es zeigt ein „o“ und einen Punkt, der ein Nasal-m bezeichnet.

Abb. 3: OM am Südflügel des Lübbener Schlosses (Foto: GoLocal Lübben)

Verblüffender noch als der Fund überhaupt ist das mindestens dreifache Vorkommen dieses Exoten in der Lausitz. Wenig später nach der Luckauer Entdeckung fiel ein weiteres OM in exakt gleicher Schreibweise am Nordportal des Südflügels des Lübbener Schlosses auf (Abb. 3). Die 1682 datierte Silbe wird auch hier von Delphinen flankiert. Zwar sind bekanntlich Delphine, zumal in ihrer Darstellung als geschuppte Fische mit übergroßem Kopf und breitem Maul als eigenständiges Motiv oder in Gesellschaft Neptuns, der Nereiden, Tritonen sowie anderer Götter oder Meerwesen in Renaissance und Barock keine Seltenheit, aber respektive der Herkunft der Inschrift sollte noch ein anderer Aspekt erwogen werden. Die indische Mythologie kennt Makaras, Wasserwesen, die mit Krokodilen oder Delphinen verglichen werden oder Mischwesen sein können. Sie können Reittiere von Göttern sein und gelten auch als Fruchtbarkeitsgenien. In der hinduistischen und buddhistischen Kunst werden die schuppigen Fabeltiere häufig dargestellt, unter anderem befinden sie sich an Eingangssituationen von Tempeln (Abb. 4). Eine Assoziation scheint hier gerechtfertigt.

Abb. 4: Makara auf dem Türsturz eines kambodschanischen Tempels im Musée Guimet Paris (Foto: Wikimedia Commons, Vassil)

Das dritte OM wurde im September 2019 in der Zittauer Klosterkirche entdeckt. Die Silbe – diesmal ohne begleitende Delphine – befindet sich auf einem Gewölbekämpfer auf der Südseite des Chores (Abb. 5).

Die nach der Reformation verfallene Kirche wurde von 1652 bis 1658 wiederaufgebaut; im Zuge dieser Arbeiten wurde das Bauwerk vollständig verputzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat man also entweder in diesen Jahren oder bald darauf auch das Stuck-OM angebracht. Von der Schreibweise her ist es völlig identisch mit den Luckauer und Lübbener Beispielen. Es gibt also drei dieser Silben, die im 17. Jahrhundert im Abstand von mindestens 15, vielleicht etwa 40 Jahren, wenn man die Arbeiten in Zittau als Datierung annimmt, an prominente Orte an bzw. in Lausitzer Bauten von besonderer sakraler oder profaner Bedeutung angebracht wurden. So weit, so rätselhaft. Jegliche Hinweise auf den oder die Urheber bzw. Auftraggeber fehlen.

Abb. 5: OM in der Zittauer Klosterkirche (Foto: © Regina Ströbl)

Tatsächlich reiste ein Luckauer nach Indien, nämlich Johann Martin Kutzscher, der aber erst 1712 geboren wurde. Er lebte bis 1779 und wurde auf dem Neuen Friedhof in Luckau begraben. All dies liegt deutlich vor dem Beginn wissenschaftlicher europäischer Beschäftigung mit indischer Kultur und vor allem der Sprachen Indiens, die in England erst im späten 18. Jahrhundert einsetzte und im frühen 19. Jahrhundert auch Deutschlands Bildungselite erreichte.

Allerdings muss bereits im 17. Jahrhundert mit Kenntnissen der indischen Kultur im deutschsprachigen Raum gerechnet werden. Wenig bekannt ist, daß der Obersteuereinnehmer und Landesbestallter der Schweidnitzer Stände, Heinrich von Poser und Groß-Naedlitz (1599-1661) bereits 1621 nach Indien reiste. Der erste deutsche Gelehrte, der schon im 17. Jahrhundert Sanskrit erlernte, war der Jesuit und Missionar Heinrich Roth, der 1620 in Dillingen an der Donau geboren wurde und 1668 im indischen Agra starb. Wenngleich die katholische Kirche den Druck seiner handgeschriebenen Sanskrit-Grammatik ausbremste, gilt der Kenner der Sanskrit-Literatur und der indischen Philosophie als Wegbereiter der modernen Indologie. Mit seinem Namen verbunden ist der seines Reisegefährten Johann Grueber (1623-1680), der Roths Manuskripte aufbewahrt und nach Europa zurückgebracht hatte. Er war der erste Europäer, der die tibetische Hauptstadt Lhasa betrat. Einige von Roths Forschungen, unter anderem zur Devanagari-Schrift, nahm der Jesuit und Gelehrte Athanasius Kircher (1602-1680) in seine Schrift „China illustrata“ auf.

Ob Roth oder Grueber jemals die Lausitz bereiste, ist, zumindest nach derzeit verfügbaren Informationen, nicht bekannt. In jedem Falle wusste der Urheber der drei Beispiele, was er tat und schrieb; zudem hatte kein Vertreter des Klerus und der weltlichen Führungsschicht etwas dagegen einzuwenden. Gab es also eine unbekannte Begeisterungswelle für Aspekte indischer Kultur bzw. hinduistischer und/oder buddhistischer Religion in der hochbarocken Lausitz?

Die Region war ab dem Prager Frieden von 1635 kursächsisch, die albertinischen Wettiner wurden mit den Markgrafentümern Ober- und Niederlausitz belehnt. In den Herrschaftsbereich des ersten Herzogs von Sachsen-Merseburg, Christian I. (1615-1691), fielen unter anderem die Städte Luckau und Lübben. Mit einem Blick in seine Biographie eröffnet sich vielleicht eine erste Spur. Wie sein Bruder Moritz von Sachsen-Zeitz (1619-1681) war er Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ von 1617, der ersten deutschen Sprachakademie. Vorbild der auch „Palmenorden“ genannten, gut vernetzten Gesellschaft waren die italienischen Renaissance-Akademien. Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (1598-1662) hatte 1651 den Schriftsteller, Gelehrten und Diplomaten Adam Olearius (1599-1671) in diese Organisation gebracht. Sein Dienstherr Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1597-1659) schickte ihn zu Wirtschaftsverhandlungen nach Rußland und Persien. Er gab auch die Reisebeschreibungen seines Freundes Johann Albrecht von Mandelslo (1616-1644) nach Persien und Indien heraus.

Bei einem dieser Köpfe könnte ein Schlüssel zu den Lausitzer Befunden liegen – die Fahndung hat gerade erst begonnen. Wer aus dem Bereich der Denkmalpflege und Bauforschung kennt womöglich ein weiteres OM? Hier ist ein hochinteressantes Rätsel zu lösen, dem wir nur gemeinsam auf die Spur kommen können.

Dr. Andreas Ströbl
Kontakt: stroebl.andreas(at)web.de


[1] Die Silbe hat seit rund 2.500 Jahren zentrale Bedeutung in Ritus und Metaphysik von Hinduismus und Buddhismus. Sie wird in den zwischen 700 und 200 v. Chr. schriftlich fixierten Upanischaden erstmals verwendet.

[2] Fast jeder Nepalreisende bringt einen Gegenstand mit, auf dem das buddhistische Mantra „om mani padme hum“ geschrieben steht. Die gebräuchlichste Deutung dieser Formale lautet „OM – Juwel im Lotos – HUM“, wobei „HUM“ ebenfalls eine Ursilbe wie OM ist.

1 Comment

  1. Veröffentlich von Thierry am 19. August 2020 um 13:31

    Äusserst verblüffender Fund. Nachdem man den Artikel gelesen hat und die Schreibweise (innerhalb des Textflusses) sieht, fällt es gleich auf. Aber zuerst muss man es entdecken, nachher sind wir immer schlauer. Spannend!

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