29.07.2021// Wir haben in den letzten Tagen erlebt wie unvorstellbare Wassermassen ihre Kraft entfalten und alles mit sich reißen. Die Fluten machten auch vor Archiven, Museen und Denkmalen nicht halt. In Stolberg bei Aachen wurde das Stadtarchiv im Keller des alten Rathauses überflutet. Stolbergs Bürgermeister Patrick Haas brachte es auf den Punkt: „Unsere komplette Stadtgeschichte ist abgesoffen!“
Ein Erlebnisbericht von Restauratorin Anneke Horstmann:
„Beim Hören der Nachrichten zum Stand der Katastrophe habe ich sofort die Bilder des 1966 überfluteten Florenz vor Augen. Ich muss daran denken, wie die „Angeli del fango“ (Engel des Schlamms) den Schlamm von den Straßen räumten und Freiwillige kostbare Gemälde aus den Uffizien bargen. Doch zunächst empfinde ich vor allem Ratlosigkeit.
Die Rettungskräfte warnen davor, mit Privatfahrzeugen in die Gebiete zu fahren, um Straßen nicht zu verstopfen. Ich möchte gerne meine Expertise als Restauratorin einbringen, um das zu schützen was meinen Beruf ausmacht – Kulturgüter.
Also wende ich mich an den VDR. Von Patricia Brozio, der Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, erfahre ich, dass sich bereits eine Gruppe zur Rettung des überfluteten Stadtarchivs in Stolberg gegründet hat und weiterhin Helfer gesucht werden. Die Hilfe wird unkompliziert über eine Facebook-Gruppe organisiert.
Es ist Dienstag, der 20.07.2021. Ich trete der Gruppe bei. Diese ist bereits fünf Tage alt und beim Durchscrollen der Posts wird deutlich wie hoch die Hilfsbereitschaft ist. Die ersten Posts sind noch getrieben von Hilflosigkeit. Es werden Kartons, Kisten, ein LKW und eine Gefriertrocknungs-Anlage gesucht. Zahllose Menschen bieten ihre Muskelkraft an. Hilfe kommt auch von benachbarten Archiven, die mit allen verfügbaren Kräften mit anpacken. Es werden Kaffee, Tee und Suppen gekocht und vorbei gebracht. Und immer wieder werden aktuelle Bilder des Archivs und des Arbeitsstands vor Ort gepostet.
Die Bilder zeugen von der Kraft, die das Wasser hatte. Aktenschränke liegen übereinander, Regale sind umgekippt, Lampen hängen schief und auf allem eine braune Schlammschicht. Es werden Bilder der ersten geretteten Schätze gepostet. Zu sehen sind in Leder eingebundene alte Bücher, Aktenmappen aus den 1920er-Jahren und eine Bleistiftzeichnung der Stolberger Burg. Alle Akten müssen möglichst schnell vom Schlamm befreit werden bevor dieser trocknet und die einzelnen Seiten zu einem Block zementiert.
Angesichts dieser Bilder fühle ich mich als Restauratorin für Wandmalerei etwas überfordert. Denn Papier ist definitiv nicht mein bevorzugtes Material. Gut gemeinte Hilfe ist leider nicht immer gut gemacht. In Gedanken versuche ich, meine Sorge, etwas zu zerstören beim Versuch es zu retten, abzuwägen gegenüber dem definitiven Verlust wenn niemand eingreift.
Mittlerweile, so kann ich den Posts entnehmen, ist auch der Kulturgutschutz-Container der Feuerwehr Köln eingetroffen. Dieser einzigartige Container wurde nach dem Einbruch des Kölner Stadtarchivs ins Leben gerufen und findet hier nun seinen ersten Einsatz. Er ist mit Arbeitsmaterial zur Archivgutrettung und professionellen Arbeitsplätzen ausgestattet. Die Feuerwehr und Restauratoren koordinieren die Arbeitsabläufe und stehen als Experten vor Ort.Dieser Container gibt mir Mut und ich fasse mir ein Herz. Am Samstag fahre ich nach Stolberg und werde auch eine Kulturgutretterin.
Tatkraft: Mission Kulturgutretterin
Auf dem Weg zum alten Rathaus zeigt sich mir ein Bild der Verwüstung. Die Straße ist teilweise aufgerissen, Bürgersteige unterspült und an historischen Gebäuden sieht man sehr deutlich, dass Mauern bis auf zwei Meter Höhe stark durchfeuchtet sind. Auf dem Marktplatz vor dem Archiv sind Pavillons und mobile Toiletten aufgebaut. Vor dem Archiv stehen mehrere Gruppentische und aufgestapelte Paletten, an denen Freiwillige und Bundeswehr-Soldaten Pläne aus dem Archiv reinigen und verpacken. Ich biete meine Hilfe an, aber zurzeit werden keine Helfer mehr benötigt.
An einem weiteren Standort des Magazins in der Sonnentalstraße sehe ich den roten Kulturgutschutz-Container. Ich gehe hin und frage die Restauratorin vor Ort wo ich helfen kann. Auch hier wird aktuell keine Hilfe benötigt. Ich bin ein wenig enttäuscht, aber gleichzeitig auch sehr glücklich über so viel Hilfsbereitschaft.
Nach einiger Wartezeit findet sich dann ein Arbeitsplatz vor dem alten Rathaus. Ich arbeite mit Ulli und Astrid zusammen an einem Tisch. Ulli arbeitet in einer Apotheke, Astrid in der Verwaltung. Beide haben schon vor einigen Tagen hier geholfen. Neben uns steht eine Palette mit geretteten, aber vom Schlamm verdreckten Plänen. Meine beiden Mitstreiterinnen zeigen mir wie man mit Wasser aus einem Gartenschlauch und handelsüblichen Schwämmen den langsam antrocknenden Schlamm entfernen kann. Beide geben sich große Mühe. Dennoch hätte ich mir auch eine professionelle Anleitung gewünscht.
Vorsichtig beginne ich das Papier abzutupfen. Ist die eine Seite einigermaßen sauber, muss der Plan umgedreht werden. Dazwischen wird der Tisch abgespült, damit der Dreck nicht nur umverteilt wird. Schnell lerne ich, dass nicht jedes Papier gleich gut oder schlecht zu reinigen ist. Wir freuen uns, wenn auf der Palette ein Plan auf Kunststofffolie dabei ist. Diese lässt sich vergleichsweise leicht reinigen und gut händeln. Ein Aufstöhnen ist bei uns zu hören, wenn wir jüngere Pläne sehen, die auf helles Papier gedruckt sind. Dieses fühlt sich am ehesten wie „normales Druckerpapier“ an. Diese Pläne lassen sich zum Teil kaum von der Palette nehmen ohne einzureißen. Es braucht viel Fingespitzengefühl und Geduld um sie möglichst unversehrt reinigen und verpacken zu können.
Die Soldaten neben mir scherzen. Sie hätten sich nie träumen lassen, dass sie einmal versuchen nasse Archivpläne zu retten. Die beiden Soldaten stehen an aufeinander gestapelten Paletten. Auf der obersten Palette liegt zunächst eine Schicht aus zwei dicken grauen Pappbögen. Dann folgt eine Schicht mit durchsichtiger Folie. Sie erinnert etwas an Frischhaltefolie aus der Küche. Auf die Folie folgt einer der gereinigten Archivpläne, danach wieder eine Schicht Folie.
Zwischendurch lädt ein Sprinter der Bundeswehr geborgene Gemälde einer nahe gelegenen Schule aus. Die Leinwände sind stark mit Schlamm verschmutzt, teilweise eingerissen oder haben sich vollständig vom Spannrahmen gelöst. Auf nahezu allen Bildern ist bereits ein deutlicher bis flächiger Schimmelbefall erkennbar. Niemand weiß so recht, wie mit diesem Fund umgegangen werden soll und so werden die Bilder erst einmal im Flur des alten Rathauses zwischengelagert.
Hier warten auch schon einige andere verpackte Archivpaletten auf ihren Abtransport in die Gefriertrocknungs-Anlage. Die schiere Masse ist überwältigend. Am Ende werden es über 500 Paletten sein, die gefriergetrocknet werden müssen.
Am Nachmittag gesellt sich Maria zu mir und wir verpacken gemeinsam Pläne an der Palette. Im normalen Leben arbeitet sie mit Demenz-Patienten. Sie war bereits den ganzen Vormittag an der Sonnentalstraße und am Kulturgutschutz-Container. Dort hat sie vor allem Museumsgut verpackt. Sie berichtet mir von der Stimmung und wie sehr die RestauratorInnen darauf geachtet haben, dass alles fachgerecht gehändelt und verpackt wird. Den HelferInnen wurde auch gezeigt wie sie die Papiere anfassen sollten und worauf beim Verpacken geachtet werden muss.
Da ist sie, meine gewünschte fachliche Anleitung! Immerhin kann ich mich damit trösten, dass ich alles, was Maria mir erklärt, bereits intuitiv gemacht habe. Dafür haben sich die VDR-Studierendenkolloquien und interdisziplinären Vorlesungen doch gelohnt. Die Erkenntnis gibt wieder ein gutes Gefühl und etwas erleichtert arbeiten wir bis zur allgemeinen Feierabendstimmung um 18 Uhr weiter. Der Rücken schmerzt, die Füße sind nass und wir beide sind nun waschechte Notfall-Kulturgutretterinnen. Ein wirklich befriedigendes Gefühl.
Nachdenklichkeit: Was lernen wir?
Es war ein langer Tag mit vielen Eindrücken. Ich habe sehr viele Helfer verschiedenen Alters und Nationen gesehen. Viele aus Stolberg, einige, wie ich, von außerhalb. Es zeigt sich ein weiteres Mal, dass, wenn es hart auf hart kommt, die Zivilgesellschafft sich gegenseitig unterstützt.
Der Umgang mit dem Kulturgut stellte sich für mich in weiten Teilen pragmatisch dar. Alle waren bemüht. Vielen war bewusst wie sensibel sie arbeiten sollten. Einige wollten aber vor allem quantitative Erfolge erzielen.
Eins ist klar: Ohne all diese Helfer wäre eine vollständige Bergung in dieser Zeit definitiv nicht möglich gewesen! Somit können vermutlich die meisten der Kostbarkeiten gerettet werden. Ein Erfolg ist ebenfalls der Abrollcontainer Kulturgutschutz der Kölner Feuerwehr. Dieser hat seine Feuer- bzw. Hochwassertaufe bestanden.
In Stolberg ist vieles richtig gelaufen, sicher gibt es wie überall auch hier Verbesserungsmaßnahmen. Angefangen beim Lagerungsort des Archivs (im Keller des alten Rathauses) bis hin zu einzelnen Abläufen im Falle einer Havarie. Stolberg steht dabei stellvertretend für alle Archive, Museen, Sammlungen und Galerien, die Kulturgüter dauerhaft oder zeitweise beherbergen. Alle Einrichtungen sollten nach diesen Ereignissen ihre Notfallpläne auf Schwachstellen prüfen oder Arbeitsausschüsse zur Erarbeitung eines solchen einrichten. Auch der VDR hat bereits letztes Jahr einen solchen Ausschuss gegründet. Hier sei nochmals dazu eingeladen an diesem Ausschuss teilzunehmen. Denn je besser wir und auf solche Ereignisse vorbereiten desto mehr Schätze können wir retten.
Es könnte sich auch lohnen, neben Experten auf ein kurzfristiges zivilgesellschaftliches Engagement zu setzten. Vielleicht ist es ja möglich, Konzepte zu entwickeln, in denen Freiwillige für einfache Aufgaben unter Aufsicht von Experten schnell eingebunden werden können? Die Katastrophe hat gezeigt, dass einem großen Teil der Zivilbevölkerung der Erhalt von Kulturgut im Notfall wichtig ist und sie auch mit Stolz erfüllt, wenn sie helfen können. Aber vor allem habe ich gelernt, dass wir unsere Mitmenschen viel zu häufig unterschätzen.“