Im GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig läuft derzeit die spannende Ausstellung „Szenen des Lebens“. Im Mittelpunkt steht ein zweiflügeliger Paravent, auf dem in vielen kleinen Szenen das Leben in der Shijō-Straße von Kyoto, der damaligen Hauptstadt des japanischen Kaiserreiches, wiedergegeben wird. Von der kürzlich durchgeführten Restaurierung berichtet Angelica Hoffmeister-zur Nedden, Leiterin der Restaurierungswerkstätten der Museen für Völkerkunde Leipzig, Dresden, Herrnhut.
Die „Spurenlese“ zum japanischen Paravent (byōbu) „Szenen an der Shijō-Straße nahe des Flussufers“ begann mit der Begutachtung verschiedener byōbu in der Leipziger Sammlung, die dann zur Auswahl dieses Stellschirms für ein Restaurierungsprojekt führte, das Juliana Polte während eines Volontariats durchführte. Diese Maßnahme war Anlass für eine umfassende materialtechnische wie kunst- und kulturhistorische Auseinandersetzung. Das Wissen über den Entstehungsprozess japanischer byōbu stellte eine wichtige Voraussetzung sowohl für die Erstellung eines Restaurierungskonzepts als auch für die Entscheidung über die Art der Durchführung der Maßnahmen dar.
Die japanische Art zu restaurieren wird stark beeinflusst von technologischen Fragenstellungen, denn japanische Restaurator*innen erlernen zunächst vor allem die Herstellungstechnik und sind somit oftmals sogar in der Lage, ein Objekt in nahezu perfekter Kopie des Originals herzustellen. Der Erhalt dieser Informationen und Fertigkeiten – ebenfalls Teil des immateriellen Kulturerbes – hat in Japan eine lange Tradition und beeinflusst die Vorgehensweise von Konservierungs- beziehungsweise Restaurierungsmaßnahmen ganz grundlegend. So wird zum Beispiel die Rahmenkonstruktion eines Stellschirms bei konstruktiven Schäden häufig gänzlich neu gebaut und die alte Montage ersetzt, um die Funktion des Paravents – das Auf- und Zuklappen – wieder zu gewährleisten.
In der westlichen Restaurierungstheorie handelt es sich bei einem Original hingegen immer um ein Objekt mit all seinen historischen Veränderungen. Ziel ist es deshalb, alle überkommenen Bestandteile so weit wie möglich zu erhalten und nicht zu ersetzen. In der noch bis zum 17. Januar 2021 laufenden Ausstellung „Szenen des Lebens. Ein japanischer Paravent und seine Geschichte(n)“ werden diese „Szenen“ als Ausdruck städtisch-bürgerlicher Kultur in Kyoto um 1620 zur überlieferten materiellen Kultur in Beziehung gesetzt. Objekte der ethnologischen Sammlung wie eine Stapelbox für Speisen, eine Trommel, ein Fächer oder ein Sandalenpaar bieten Gelegenheit zum Vergleich zwischen realem Objekt und seiner künstlerischen Umsetzung auf dem Paravent und zeigen zugleich die Vielfalt der Leipziger Japan-Sammlung.
Die Spuren, die bei der Bearbeitung des Paravents gelesen wurden, regten zu neuen Erzählungen an, deren Vielfalt sich in der Auswahl der Beiträge in der Publikation sowie in der Ausstellung widerspiegelt. Die Provenienzgeschichte des byōbu und seine Herstellungsgeschichte waren bislang unerforscht und berichten vom Austausch zwischen Japan und Europa. Die sinnbildlichen Blicke hinter die Theaterkulissen halfen, Alltag und Bräuche des alten Japan zu entschlüsseln. Nicht zuletzt inspirierten sie zum Sprung in die heutige Zeit – vom Stellschirm zur Software „Byobu“ und zu generellen Gedanken zur Thematik der Abschirmung.
Insofern gleichen Restaurierungsprojekte einer Forschungsreise. Der Ausgangspunkt – ein Sammlungsobjekt – steht fest, ebenso das Ziel: seine Konservierung oder Restaurierung. Der Weg dahin aber lässt sich nicht von vornherein definieren, denn die Untersuchung bringt im Idealfall etwas hervor, das bislang unbekannt war. Daraus können sich neue Fragen und Erkenntnisse ergeben, die in die Restaurierungsmaßnahme einfließen.
Restaurator*innen sind also nicht nur „Spurensucher*innen“, sondern immer auch „Spurenleser*innen“. Für die Entwicklung der passenden Restaurierungsstrategie analysieren sie die verwendeten Materialien und ihre Verarbeitungstechniken in Berücksichtigung des spezifischen kulturhistorischen Kontextes eines Objekts. Sie interpretieren dessen Erhaltungszustand in Hinblick auf seinen früheren Gebrauch, auf die Bedingungen des Transports aus dem Ursprungsland nach Europa und der Aufbewahrung im Museum.
Die Idee, den Ansatz der „Spurenlese“ als Grundlage der restauratorischen Praxis systematischer zu fassen, führte 2016 zur Gründung einer gleichnamigen Publikationsreihe an den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen. Sie wird in Zusammenarbeit mit der Abteilung Forschung und wissenschaftliche Kooperation der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden umgesetzt. In den bislang drei erschienenen Bänden werden Ergebnisse aus verschiedenen Restaurierungsprojekten der letzten Jahre vorgestellt, die zudem in kleineren und größeren Ausstellungen präsentiert werden.
Vor der „Spurenlese“ zum japanischen Paravent beschäftigte sich der erste Band in dieser Reihe mit dem Bestand von 45 Ambrotypien in Besitz des GRASSI Museums für Völkerkunde zu Leipzig, der für das Ausstellungsprojekt „Gesichter auf Glas“ von Carsten Wintermann restauriert wurde. Im Zuge der Restaurierungsmaßnahmen dieser unikalen Fotografien – Kollodiumnegative auf Glasträgern, die, dunkel hinterlegt, ein Positivbild hervorbringen – kamen neue Merkmale zu Tage, mit deren Hilfe die Entstehungsumstände besser rekonstruiert werden konnten. Bislang von Blechpassepartouts abgedeckte Bildinformationen wurden ebenso sichtbar wie Prägestempel von Herstellerfirmen fotografischer Ausstattung, so dass die Autorschaft dem amerikanischen Naturforscher Andrew Garrett in einigen Fällen neu zugeschrieben werden konnte.
Die „Spurenlese 2“ stellt die aus China stammende Repraraturtechnik des Flickens von Porzellan in der Dauerausstellung des Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig vor. Mit einer vollständig erhaltenen Werkstatt, die bis 1912 in Peking in Gebrauch war, zeigt die Präsentation Werkzeuge, Materialien und Beispiele dieser großartigen Reparierkunst. Anlass der Restaurierung dieser Reparierwerkstatt war zunächst der Wunsch der Leipziger Werkstattmitarbeiter*innen, ein Objekt gemeinsam zu restaurieren, also die Restaurierung von Holz, Metall, Textil, gefassten Oberflächen und von Keramik bzw. Porzellan zusammen zu planen und auszuführen. Während wir mit den Einzelteilen der Porzellanflickerwerkstatt beschäftigt waren, fand 2016 die Sonderausstellung „GRASSI invites #1: Fremd“ statt, in der die chinesische Künstlerin Juanzi Cheng unter dem Titel „Imperfect Perfection“ einen Porzellanflicker in China interviewte, als einen Vertreter der nach wie vor praktizierten Kunst, die in China zum immateriellen Kulturerbe gehört. Wir nahmen Kontakt mit Sun Zhenyu auf und konnten ihn im November 2017 zu einem Workshop ins Museum einladen, sodass die Besucher*innen ihm bei der Ausübung seiner Tätigkeit über die Schulter schauen konnten. Die Werkstatt eines wandernden Porzellanflickers aus Peking in unserer Sammlung hat dadurch noch einmal eine ganz besondere Qualität beigemessen bekommen.
Eine vierte „Spurenlese“ zum Thema „Fragen an die Weltenhüter – Der Umgang mit religiösen Objekten im Museum“ ist aktuell in Vorbereitung.
Link zur Ausstellung „Szenen des Lebens“ (bis 17. Januar 2021)
Über die Konservierung und Restaurierung des japanischen Paravents berichtete Juliana Polte M.A. ausführlich in ihrem Beitrag „Die Theaterstraße von Kyoto. Ein Byōbu aus den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen“, in „Beiträge zur Erhaltung von Kunst- und Kulturgut“, 1/2018, S. 45 ff.
Erhältlich im VDR-Shop und für VDR-Mitglieder kostenlos zum Download im Mitgliederbereich der Website www.restauratoren.de.
Schon bei uns publiziert!
https://www.restauratoren.de/shop/digitale-ausgabe-der-vdr-beitraege-1-2018/:
S. 45: Juliana Polte Die Theaterstraße von Kyo¯to
Ein Byo¯bu aus den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen
Darauf verweisen wir auch am Ende des Textes. Aber vielen Dank, dass Sie nochmal gesondert darauf aufmerksam machen.