Ein ethisch korrekter Umgang mit menschlichen Überresten sei heute, weit mehr noch als dies vor einigen Jahrzehnten der Fall war, weitestgehend gesellschaftlicher Konsens, sagt Jakob Fuchs. Der Diplom-Restaurator befasst sich in Forschungsprojekten mit dem, auch ethisch, komplexen Thema. Mit ihm sprach Paul Grasse.
Herr Fuchs, welche Arten von menschlichen Überresten sind in den Depots und Sammlungen anzutreffen?
Jakob Fuchs: Das Depot ist, unabhängig von der Art des Sammlungsgutes, ein Ort der Aufbewahrung von Sammlungsstücken, die temporär oder dauerhaft nicht ausgestellt oder für die Lehre genutzt werden. Das trifft auch für menschliche Überreste zu. Die Depots entstanden somit in den meisten Fällen zusammen mit den musealen oder universitären Sammlungen.
Die Formen in denen menschliche Überreste vorliegen sind ausgesprochen vielfältig. Grob unterscheiden kann man sie in natürlich und künstlich konservierte Körper oder Körperteile. Zahlreiche menschliche Überreste befinden sich in archäologischen Sammlungen; hierbei handelt es sich meist um Boden- bzw. Grabfunde. Im Zuge der kolonialen Eroberung gelangten, neben Kunstgegenständen, auch viele menschliche Skelette, Skelettteile sowie präparierte und konservierte Körper und Körperteile aus der ganzen Welt nach Europa. Menschliche Überreste aus diesen Sammlungen wurden und werden oft für anthropologische Forschungen genutzt. Teilweise finden sich in ethnografischen Sammlungen und Museen Exponate mit menschlichen Körperteilen. Diese liegen zum Teil in (künstlerisch) bearbeiteter Form vor.
In medizinischen Fakultäten wurden und werden anatomische und pathologische Präparate von Anatomen und Präparatoren hergestellt und für die Ausbildung der Medizinstudenten verwendet. Bis ins 20. Jahrhundert sammelten auch die Kunstakademien menschliche Präparate oder stellten diese zum Teil selbst oder in Kooperation mit medizinischen Fakultäten her. Die Präparate wurden für das künstlerische Naturstudium eingesetzt. In Deutschland besitzt nur die HfBK Dresden heute noch eine umfangreiche historische Anatomiesammlung, wobei die überwiegende Anzahl der humananatomischen Lehrmittel eher auf Modelle in Gips, Wachs und Kunststoff entfällt. Heute kommt den menschlichen Überresten in den Depots noch eine besondere Bedeutung zu, da die zum Teil sehr umfangreichen Bestände oft Gegenstand der Forschung sind, bzw. der Bestand als solcher aufgearbeitet wird. Aus diesem Grund haben Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen Zugang zu diesen menschlichen Überresten.
Wie ist man mit ihnen bisher umgegangen? Können Sie einschätzen, ob die Bedingungen in den Depots in Deutschland den Ansprüchen der menschlichen Überreste genügen?
Jakob Fuchs: Im Rahmen meines Dissertationsvorhabens zur Herstellungstechnik und Konservierung historischer Injektionspräparate des 18. und 19. Jahrhunderts habe ich überwiegend Zugang zu den medizinischen Sammlungen. Man kann sich aber einen guten Überblick im Austausch mit Kollegen, Sammlungsbetreuern etc. verschaffen. Hervorzuheben ist, dass menschliche Überreste nicht mit herkömmlichem Sammlungsgut gleichgesetzt werden sollten, da wir als Gesellschaft eine große ethische Verantwortung gegenüber den Verstorbenen und ihren Nachfahren tragen. Aus diesem Grund genügt es nicht, wenn ein Depot die konservatorischen und sicherheitstechnischen Anforderungen erfüllt, was im Übrigen auch nicht zwangsläufig immer gegeben ist.
Eine ethisch angemessene Aufbewahrung der Körperteile von Verstorbenen ist nicht nur für die Herkunftsgesellschaften und Nachfahren relevant, sie dient auch dem Schutz derjenigen, die in den Depots arbeiten. Das sind nicht immer Personen, die es ihrer Berufswahl entsprechend gewohnt sind, mit menschlichen Überresten in Berührung zu kommen – Stichwort Provenienzforschung. Ich denke, dass viele Sammlungen und deren Depots hier noch einen Nachholbedarf haben.
Warum war es an der Zeit, sich mit dem Thema tiefergehend auseinanderzusetzen?
Jakob Fuchs: Ein ethisch korrekter Umgang mit menschlichen Überresten ist heute, weit mehr noch, als dies vor einigen Jahrzehnten der Fall war, weitestgehend gesellschaftlicher Konsens. Die Nachfrage der Herkunftsgesellschaften, die das koloniale Erbe der Bundesrepublik betreffen, trägt seit einigen Jahren vermehrt dazu bei, dass die entsprechenden anthropologischen und ethnografischen Sammlungen in Museen und Depots kritisch erschlossen werden. Gleiches gilt für anatomische und pathologische Präparate, die während der NS- bzw. DDR-Zeit entstanden sind. Die bestehenden Empfehlungen der Bundesärztekammer von 2003 und des Deutschen Museumsbundes von 2013 beziehen sich weitestgehend auf einen Ausstellungs- und Nutzungskontext der menschlichen Überreste. Konservatorische Empfehlungen sind nur rudimentär aufgeführt.
Meiner Ansicht nach hat der Erhaltungszustand und die Art und Weise der Aufbewahrung jedoch einen maßgeblichen Einfluss auf einen würdevollen Umgang mit menschlichen Überersten. Was uns zum Verfassen der Publikation „Menschliche Überreste im Depot. Empfehlungen für Betreuung und Nutzung“ bewegt hat, war u.a. der Umstand, dass die beiden genannten Empfehlungen kaum auf den nichtgezeigten Teil der universitären und musealen Sammlungen Bezug nehmen. Zum einen sollen die Empfehlungen also eine Hilfestellung geben, die historischen Sammlungen zukünftig besser zu schützen, zum anderen war es uns ein Anliegen, auch „fachfremden“ Mitarbeitern die Arbeit in den Depots zu erleichtern.
Welche Hürden gibt es im Umgang mit menschlichen Überresten?
Jakob Fuchs: Das muss man differenziert betrachten. Diejenigen Berufsgruppen, beispielsweise Mediziner, Präparatoren, Anthropologen etc., die für die Arbeit an (toten) menschlichen Körpern und Körperteilen ausgebildet wurden, sind im Umgang mit diesen natürlich geschult. Anders ist es bei Personen, die eher „zufällig“ mit menschlichen Überresten zu tun haben, oder sich erst im Verlauf ihrer Arbeitstätigkeit darauf spezialisiert haben. Hier fehlen oft Kenntnisse des richtigen Handlings. Auch Fragen, inwieweit eine Gesundheitsgefahr durch Krankheitserreger, Konservierungsflüssigkeiten, Schwermetallbelastungen etc. besteht, spielen hier eine wichtige Rolle. Die präventive Konservierung und aktive Restaurierung von historischen menschlichen Überresten betreffend, ist das größte Problem, dass es hierzu bisher nur verhältnismäßig wenige fundierte Forschungsergebnisse gibt. Diese beziehen sich dann auch meistens auf archäologische Funde und ethnografische „Exponate“. Bei einigen Sammlungen ist zum Teil auch problematisch, dass nicht immer eine klare Trennlinie zwischen aktiv genutzter Lehrsammlung und historischer Schausammlung verläuft.
Sind die Überreste genauso zu konservieren und zu restaurieren wie andere „Sammlungsstücke“?
Jakob Fuchs: Meiner Ansicht nach nein. Alle Verantwortlichen müssen dringend die ethischen Komponenten berücksichtigen, also letztlich entscheiden, welche Faktoren eine würdevolle Aufbewahrung und Präsentation begünstigen oder negativ beeinflussen. Sehr problematisch werden diese Fragen, wenn wir uns mit der Aufstellung bzw. Präsentation, den Überarbeitungen oder „Fehlstellen“ an menschlichen Überresten beschäftigen. Hier können durchaus Spannungen zwischen Ethik und Restaurierungsethik auftreten.
Ein gutes Beispiel ist hier der Umgang mit Reparaturmaßnahmen, die heute als ethisch unangemessen empfunden werden. Häufig wurden in der Vergangenheit Skelettmontagen repariert, indem man die Körperteile mehrerer Individuen als „Ersatzteilspender“ benutzt hat. Bei Feuchtpräparaten lässt sich zum Teil beobachten, dass Körperteile verschiedener Personen in einem Glasgefäß aufbewahrt werden, weil andere Gefäße zerstört wurden und kein adäquater Ersatz vorlag. Nicht nur die prekären Aufbewahrungsbedingungen, sondern auch Beschriftungen auf Körperteilen menschlicher Überreste, die aus außereuropäischen Kulturen stammen, sind zum Teil unangemessen/herablassend und werden von den Herkunftsgesellschaften auch so empfunden. Hier besteht aus ethischer Sicht ein dringender Handlungsbedarf, in dessen Folge allerdings ein „historisch gewachsener Zustand“ oder sogar eine Dokumentation in situ getilgt werden müssten. Bei diesen Themen besteht in Zukunft noch ein erheblicher Diskussionsbedarf.
Werden Restauratoren in die Bewahrung dieser Sammlungen standardmäßig einbezogen?
Jakob Fuchs: Standardmäßig sind Restauratoren sicher nicht einbezogen. In den meisten Fällen spielt es eine große Rolle, welche Wertschätzung die Sammlung in der jeweiligen Institution erfährt. Auch die angesprochene unscharfe Trennlinie zwischen Lehr- und Schausammlung wirkt sich hier oft negativ aus, denn die historischen menschlichen Körperteile sind unter Umständen so fragil, dass sie wenig oder nur sehr professionell bewegt werden sollten. Wenn die Sammlungsbestände nicht (räumlich) voneinander getrennt sind, können Schäden zum Teil nicht ausgeschlossen werden. Ich denke es wäre zunächst erst einmal wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es sich bei menschlichen Überresten um ein wertvolles, historisches und zum Teil sehr fragiles „Sammlungsgut“ handelt. Eine sorgfältige konservatorische Betreuung der Sammlungen durch Restauratoren sollte daher noch wesentlich stärker thematisiert werden.
Welche Fachdisziplinen wurden in die Überlegungen zum Umgang und zur Bewahrung menschlicher Überreste einbezogen?
Jakob Fuchs: In Bezug auf unsere Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten im Depot wäre es wünschenswert gewesen, alle Fachdisziplinen einzubeziehen, die einen Zugang zu menschlichen Überresten aller Art haben. Ein Blick auf die o.g. Klassifizierung menschlicher Überreste verdeutlicht aber, dass dies in einem überschaubaren Format nur schwer möglich ist. Die Anforderungen und Ansprüche, aber auch die menschlichen Überreste selbst, sind einfach sehr verschieden. Dies wird zum Beispiel beim Thema Arbeitsschutz sehr deutlich. Wir, die Autoren der Empfehlungen haben dennoch versucht die Thematik weit aufzufächern, allerdings ohne hier einen Vollständigkeitsanspruch erheben zu wollen. Um eine Hilfestellung zu geben, haben wir uns intensiv damit befasst, welche Punkte im Leitbild jeder Institution zum Umgang mit menschlichen Überresten diskutiert und festgehalten werden sollten. Hier können und sollten immer individuelle Anpassungen erfolgen.
Da wir den Fokus verhältnismäßig stark (im Vergleich mit den bestehenden Empfehlungen) auf die Konservierung und Restaurierung gelegt haben, waren neben Dr. Sandra Mühlenberend (Kunst- und Wissenschaftshistorikerin; Leiterin des BMBF-Forschungsprojektes an der HfBK Dresden), Dr. Michael Markert (Wissenschaftshistoriker) und Prof. Dr. Christoph Herm (Chemiker und Professor im Lehrbereich für Archäometrie an der HfBK Dresden) auch Dipl.-Restauratorin Diana Gabler und ich beteiligt. Bis zum Ende dieses Jahres wollen wir eine überarbeitete Fassung unserer Empfehlungen auf den Weg bringen und dabei auch weitere Expertisen einbinden. Gerade die medizinischen Sammlungen werden in vielen Fällen von Präparatoren betreut. Da sie nicht nur für die Herstellung moderner Lehrpräparte und deren Pflege, sondern oft auch für die historischen Bestände verantwortlich sind, liegen hier bereits einige wichtige Erfahrungen vor.
Linkliste
- Handreichung „Menschliche Überreste im Depot“ – Empfehlungen für Betreuung und Nutzung
- Beiträge zum Workshop „UMGANG. Menschliche Überreste in Museen und Universitätssammlungen“ am 03./04.05.2018 an der Hochschule für Bildende Künste Dresden
- Link zur Wiedereröffnung der Anatomischen Sammlung der HfBK Dresden im November 2019
Zur Person von Jakob Fuchs
Jakob Fuchs studierte Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (Diplom 2015) und war im BMBF-Forschungsprojekt „Körper und Malerei“ von Februar 2017 bis Januar 2020 für die konservatorische Betreuung der Präparate und Modelle der Anatomischen Sammlung der HfBK Dresden zuständig. Vertiefend befasst er sich innerhalb des Projektes mit der Konservierung und Restaurierung menschlicher Präparate. Seit 2017 schreibt er an seiner Dissertation zum Thema „Herstellungstechnik und Konservierung historischer Gefäßinjektionspräparate des 18. und 19. Jahrhunderts“ und steht für die umfangreichen Untersuchungen und die Erforschung dieser Präparate in Kontakt mit zahlreichen anatomischen und pathologischen Sammlungen in Europa. Derzeit ist er an der HfBK Dresden als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt und widmet sich der Konservierung und Restaurierung humananatomischer Bänderskelette der Sammlung.